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Neurodiversität- ich ticke anders.


 

Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, dass die eigene Art zu denken und wahrzunehmen “normal” ist und dass jeder dies auf ähnliche Weise tut. 

Tatsächlich aber kann die Art, wie wir unsere Umwelt erfassen und Informationen verarbeiten, von Mensch zu Mensch, sehr unterschiedlich sein. Bei extremen Formen kann man von Neurodiversität sprechen. 

 

 


 

Was ist Neurodiversität? 

 

Der Begriff Neurodiversität stammt von Menschen aus dem Autismus Spektrum und entstand in den 90er Jahren. Ihnen war es wichtig einen positiv besetzten Begriff für ihre Besonderheiten zu verwenden. Es sollte verdeutlicht werden, dass es sich hierbei schlichtweg um spezielle neurologische Anlagen bzw. kognitiven Fähigkeiten handelt. Weg von dem bisherigen Bild, Autismus als Krankheit oder Störung zu betrachten. Sondern als eine mögliche Lebensform von vielen, die trotz oder auch aufgrund ihrer Andersartigkeit, lebenswert ist [1].  

 

Dies war ihnen zum einen wichtig für sich selbst, um ein eigenes Selbstverständnis zu entwickeln. Zum anderen aber auch um dies nach außen hin darzustellen und zu kommunizieren.  

 

Doch Neurodiversität ist nicht allein auf das Autismus Spektrum beschränkt. Vielmehr existieren viele verschiedene Formen dieses Phänomens. Menschen, die sich als neurodivers begreifen, verfügen über besondere neurologische Eigenschaften.  Diese sind angeboren und haben somit genetische Ursachen. 

Auch die Hochbegabung und die Hochsensibilität lassen sich als deren Spielarten begreifen und dieser Thematik zuordnen.  

 

Aufgrund besonderer Anlagen unterscheidet sich die Art, wie das Gehirn in bestimmten Bereichen funktioniert, von der Mehrheit der Mitmenschen. 

 

Kennzeichnend für Neurodiversität ist eine andere Form der Informationsverarbeitung und der Wahrnehmung

 

Zur Kognitiven (wissen, erfahren, erkennen) Psychologie gehören alle Fähigkeiten, die es jemanden ermöglichen, Informationen aus seiner Umgebungswelt zu erkennen und zu verarbeiten, um somit Wissen über diese zu erlangen und handlungsfähig zu sein und auf diese angemessen reagieren zu können. Hierzu gehören u.a. Wahrnehmung, Denken, Problemlösung, Gedächtnis/Erinnerung, Planen, Orientierung, Introspektion, Vorstellungskraft [2] [3].  

 

Menschen, die extreme Randformen von kognitiven Eigenschaften aufweisen, erfassen ihre Umwelt auf etwas andere Weise. 

Ausschlaggebend ist eine Art Differenziertheit zur Mehrheit seiner Mitmenschen. Diese Andersartigkeit und kognitiven Besonderheiten, lassen sich spezifisch einem bestimmten Phänomen zuordnen. Beim Autismus Spektrum, der Hochsensibilität und der Hochbegabung geschieht dies jeweils in charakteristischen Formen. Wenngleich sie immer auch individuell und in einem gewissen Spektrum in Erscheinung tritt. 

 

siehe ergänzend mein Video über Neurodiversität und erfahre, wie sich ihre verschiedenen Spielarten äußern können.

 

Wie erleben Betroffene ihre Neurodiversität? 

 

Diese Besonderheiten haben grundlegende Auswirkungen auf viele Lebensbereiche. Sie beeinflussen die zwischenmenschliche Interaktion und Kommunikation, aber auch das Lernverhalten, sowie die Potenziale und Talente eines Menschen. 

Prägend für Betroffene ist, dass sie Situationen anders erleben und bewerten. Sie verfügen über andere Informationen und kommen auf andere Ergebnisse. 

Die Art, wie die Umgebungswelt erfasst wird und Informationen verarbeitet werden, hebt sich signifikant ab. 

Oft besteht eine gewisse Diskrepanz zwischen dem eigenen Empfinden, Registrieren und Beurteilen der Geschehnisse und dem seiner Mitmenschen. Dies nicht aufgrund der üblichen Subjektivität, die jeder Mensch hat, sondern aufgrund dessen, wie das Gehirn funktioniert. 

 

Solche Situationen, des unterschiedlichen Denkens und Erlebens, können auf sehr subtile Weise erlebt werden und wenig greifbar sein, aber auch deutlich erkennbar und offensichtlich sein. Für Betroffene ist ihre Andersartigkeit dennoch immer wieder auf irgendeine Art bemerkbar und spürbar. Der Umgang damit kann sehr unterschiedlich sein, je nach Ausprägung der individuellen Anlagen und Situation.  

Es können starke Selbstzweifel entstehen, weil man das Gefühl hat Situation nicht (richtig) einschätzen zu können. Da man schon öfter solche Erfahrungen gemacht hat. Um diese zu bewältigen, benötigt es häufig ein sehr bewusstes reflektieren, analysieren und beobachten der Umgebung notwendig, um angemessen reagieren zu können. 

 

Die große Problematik, liegt vor allem im nicht wissen um die eigenen Besonderheiten, um damit umgehen zu können. Im Allgemeinen ist man sich nicht über die Möglichkeit von Neurodiversität bewusst, dass es so etwas überhaupt gibt und wie sie sich äußert. Dies ist aber die Grundlage dafür, um das Erlebte richtig einordnen und verstehen zu können.  

Betroffene merken zwar immer wieder ihr Andersseins und das nicht passend sein und das dies häufig mit bestimmten Schwierigkeiten verbunden ist. Sie sind sich aber der Gründe und Ursachen hierfür wenig bewusst.  

 

Folgen von nicht erkannter Neurodiversität 

 

Die Folgen für Betroffene können vielfältig und gravierend sein.  

Mitunter beziehen sie ihr anders sein ganz negativ auf sich, was zu starken Unsicherheiten und Selbstwertproblemen führen kann.  

Bestimmte Situationen oder Herausforderungen können nicht oder nur schwer bewältigt werden. Missverständnisse im Zusammenleben, Schüchternheit, bis hin zum sozialen Rückzug, können die Konsequenzen sein.  

Die Bandbreite reicht, von Problemen seinen Alltag zu meistern, bis hin zu Angststörungen und Depressionen. 

Hinzu kommen Schwierigkeiten in Schule und Bildungssystem, da diese nicht, oder nur sehr wenig auf die Anforderungen von neurodiversen Menschen ausgelegt sind. Ähnlich sieht es in der Berufswelt aus, was es schwer machen kann, Fuß zu fassen.  

Dies alles sind Faktoren und Bedingungen, die es Betroffenen erschweren, sich als gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln und sich ihren Anlagen und Bedürfnissen entsprechend zu entfalten.   

  

Warum ist das Thema Neurodiversität heute wichtiger denn je?  

 

Neurodiversität hat evolutionäre Gründe. Das menschliche Spektrum ist wesentlich vielfältiger aufgestellt, als allgemein hin angenommen wird. Eine Gruppe, die mit vielen unterschiedlichen Fähigkeiten ausgestattet ist, hat Vorteile und somit eine größere Überlebenschance. 

Doch die Art, wie wir leben, hat sich innerhalb weniger Jahrhunderte rasant verändert. Dem früheren Leben in kleinen Gemeinschaften ist einem urbanen und hoch organisierten Lebensstil gewichen. 

Aber genau dieser stellt neurodiverse Menschen vor Herausforderungen.  

Es ist davon auszugehen, dass er verstärkende Faktoren darstellt, die ihr Verhängnis noch verschlimmern. 

 

Zu unserer heutigen Zeit gehört es, dass wir um ein Vielfaches mehr an sozialen Kontakten ausgesetzt sind als beispielsweise noch vor 100 Jahren. Wir müssen uns immer wieder auf fremde Menschen und neue Situationen einstellen. Sei es im privaten oder im beruflichen Kontext. Somit vervielfältigen sich auch die Möglichkeiten, in denen neurodiverse Menschen mit ihren besonderen Anlagen konfrontiert werden. Sie ecken an, es kommt zu Missverständnissen oder anderen Komplikationen. In einem kleineren, bekannten und vertrauten Umfeld geschieht dies weniger. 

 

Ein weiterer grundlegender Pfeiler unserer Gesellschaft ist Bildung. Doch unser Bildungssystem ist sehr standardisierten und auf eine breite Masse ausgerichtet. Auf Besonderheiten wie Neurodiversität ist es kaum in der Lage einzugehen. Betroffenen bietet es wenig Raum sich dort entsprechend entwickeln und entfalten zu können, von passender individueller Förderung einmal ganz zu schweigen. 

 

Hektik, Leistungsdruck viele neue, unbekannte Situationen und ungeeignete Strukturen- unsere Lebensführung und Umgebungswelt sind wenig auf die Bedürfnisse von neurodiversen Menschen ausgelegt. Beziehungsweise stellt die moderne Lebensart diese Personengruppe mitunter vor große Herausforderungen.  

 

Neurodiversität als Chance nutzen 

 

Doch ihr geistiges Potenzial kann eine große Chance sein. Neben der Wichtigkeit und auch der Pflicht, zur angemessenen Förderung jedes Einzelnen, besteht auch ein gesellschaftlicher Nutzen. Inzwischen gibt es Plattformen, die sich eigens darauf spezialisiert haben, ihre kognitiven Möglichkeiten dem Arbeitsmarkt zugänglich zu machen. Die speziellen Fähigkeiten von Autisten können für bestimmte Firmen von großem Nutzen sein.  Wenn Hochbegabte speziell gefördert und integriert werden, ist es möglich, dass dadurch herausragende und fortschrittliche Leistungen entstehen, die auch Unternehmen und Forschung voranbringen.  

Ebenso sind die Talente von hochsensiblen Menschen für bestimmte Berufe überaus vorteilhaft. 

Dennoch steckt das Wissen zur Förderung und Integration von neurodiversen Menschen in Bildung und Berufswelt noch in den Kinderschuhen.  

 

Bewusstsein über Neurodiversität 

 

Zwar ist das Thema Diversität medial sehr präsent und es besteht sogar ein gewisser Hype darum. Doch die wirkliche Dimension und ein Bewusstsein darüber, wie vielfältig menschliches Leben tatsächlich ist, in welchen Bereichen und Formen dies in Erscheinung tritt, darüber besteht immer noch viel Aufklärungsbedarf. Gesellschaftlich sind die vielfältigen Belange der Menschen bei weitem noch nicht ausreichend berücksichtigt.  

Wenn es um Neurodiversität geht, besteht noch sehr wenig Wissen darüber, was das genau ist, beziehungsweise, dass es sie überhaupt gibt. Zwar handelt es sich hier prozentual gesehen um recht seltene Phänomene, da unsere Spezies aber sehr expandiert ist, gibt es auch viele Menschen, die von dieser Thematik betroffen sind. 

 

Im Bildungsalltag spielt sie jedoch nur eine geringfügige Rolle, wenn überhaupt. Entsprechend wenig ist pädagogisches Wissen vorhanden. Genauso existiert immer noch kaum wissenschaftlich fundierte Literatur darüber. 

 

Es besteht ein enormes Defizit an grundlegender Forschung in diesen Bereichen. Diese muss initiiert und unterstützt werden. Ebenso müssen Möglichkeiten, Lösungen und Wege gefunden werden, um Betroffene in Beruf und Bildung angemessen und ihren Anlagen und Bedürfnissen entsprechend, zu integrieren.  

 

Ein größeres generelles Bewusstsein und Wissen über Neurodiversität sind von Nöten. Für die Betroffenen selbst, aber auch gesellschaftlich. Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich selbst als neurodivers zu erkennen und ihr Leben dem entsprechend einrichten zu können. Gesellschaftlich müssen dafür Grundlagen geschaffen werden.   

 

In einer Zeit, in der Diversität, Offenheit und Toleranz aber auch Individualität und Entfaltung ein wichtiger Grundfeiler unseres gesellschaftlichen Lebens sind, gehört dies auch dazu, damit auch diese Menschen sich entsprechend entfalten und entwickeln können und integriert werden. Es braucht Investition in Bildung und Forschung, damit das Grundrecht auf Förderung für alle Menschen gleichermaßen gegeben ist. 



siehe auch folgende Beiträge:

 

Was ist Neurodiversität?


 

 

Quellen Text: 

1. Silberman, S. (2016). Geniale Störung: Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken. DUMONT Buchverlag 

2.https://dorsch.hogrefe.com/gebiet/kognitive-psychologie#search=750116f03c48d1858087f46d87894569&offset=0 

3.https://lexikon.stangl.eu/16169/kognitiv